Was ist es um unsere erlebte Dynamik der
Identitätsergänzung? Es scheint, als lauerten permanent schon fertige
Identitätsweisen auf uns, in welche wir wie alternativlos verfallen und die
unsere Identität sozusagen nur fortschreiben.
Mit diesen beiden Sätzen ist der entscheidende
Fehler schon passiert - -
Der zweite Satz darf dem ersten nicht so einfach
folgen. Das Leben und die Wahrheit tun sich genau an der Bruchstelle auf, wo
der erste Satz nicht einfach in den zweiten führt. Unsere erlebte Ergänzung der
eigenen Identität ist – im Prinzip immer – eine je erst zu bejahende, auch wenn
sich das weitgehend vorkonkret abspielt.
Also nochmal. Was ist es um unsere erlebte
Selbstbelohnung des Persönlichkeit-Seins, dieses mehr oder weniger genüssliche
So-bin-ich und So-werde-ich-wahrgenommen? Da ist eine stringente
Wesensergänzung, drängend auf die Fortführung unserer Identität, die uns
versklavt oder beschwingt, uns wahrhaftig erscheint oder raffiniert. Und wenn
unsere identitätshafte Wesensergänzung unfrei geschieht, sind wir dieser
Versklavung auch gewahr.
Hiermit ist nun herausgestellt: Unsere Identifikationen (und damit Bildungen von
Identität) können unfrei geschehen,
es ist aber prinzipiell in unserer Macht, dass wir entscheidungsfähig, also
frei sind/werden/bleiben.
Die Kunst hat uns diese Freiheitlichkeit
zuzumuten. Alle Weisen von spielerischem
Selbstgegenüber – die sogleich ein existenzielles Herausgefordertsein
sind – exerzieren modellhaft unser Identifizieren und damit Identität Bilden.
Eine Kunsttheorie, die schnörkellos ins Zentrum zielt, muss nach diesem
Sein-in-identitätsbildnerischem-Selbstgegenüber fragen.
Auch dessen 'funktionelles Element', die Ichdynamik, genauer die ichhafte Wesensergänzung, stellt schon eine
spirituelle Realität dar. Und sie konstituiert jene Ebene mit, die uns trägt indem sie uns fordert, d. h.
herausfordert zur Realisation menschlicher Entscheidung (und ihrer
Spiritualität), sie bedingt und ermöglicht Identitätsbildung und so die
Bewältigung des Lebensmoments. Die Kunst ist nun Beschäftigung/Beschäftigtsein
mit diesem schöpferisch-existenziellen Ereignen. Sie findet sich Identität
bildend mittelbar auf die Schöpferhandschrift bezogen, welche von den einen als
Duktus der Evolution gedacht, von den anderen aber als Gott-in-Schöpfergeist
geglaubt wird. Kunst soll uns offen halten für den ‚Urgrund‘ - hier nicht gleich zu verwechseln mit Gott
selbst, sondern gemeint als Verfügtheit in ein Gegenüber, das keine
emanzipierte Wirklichkeitsbeschließung erlaubt.
Wenn man etwa fragt„Was ist zu sagen im Leben?“, so gibt es außer lebenspraktischen,
politischen, wissenschaftlichen Weisheiten auch noch das Zu-sagen-Haben an
sich. Es geht in dem ganzen weiten Feld der Künste um ein
Wie-tue/sage-ich-etwas, sozusagen um Können an sich. Auch wenn uns die Kunst
keine konkreten Hilfen anbietet, so doch Identifikationsweisen, damit wir ‚in
der Materie’ sind. Unserer Selbstfindung/-definition/-bearbeitung wird eine
Musterhaftigkeit angeboten, die in identifikationsgemäßes Wünschen führt.
„Nicht alles ist Kunst, aber jeder ist Künstler“,
der berühmte Satz von Joseph Beuys erfährt seine Berechtigung darin, dass jeder
von uns ein Künstler an sich selbst sein muss. Gewärtigen, Auswählen,
Riskieren, Abwägen, Verzögern, Entscheiden... wir sind immerfort, bei aller
praktischen Konkretheit unserer Verrichtungen, an uns selber dran, unmittelbar
in Seelenausbildung verfasst, dem tieferen Ernst unserer Situation ausgeliefert.
Alle Kunst ist in ihrer Stoßrichtung zunächst, für den Künstler, Eroberung und
Belebung von Identitätsweisen. Wo sie gelingt, gleich ob mit dem Pinsel oder
der Buschtrommel, ist sie dann auch Anleitung dazu, richtet uns zusammen. Das verweist auf eine schöpferische
Grundlegung unseres Wesens nicht zur Spielerei, sondern zum Selbstvollzug. Das
‚Kunstwerk’ sich vollziehender Identität als solcher ist schließlich die Ermöglichung
von personal letztgültigem Dasein.
Die menschliche
Fähigkeit und Notwendigkeit zur Identifikation kommt in allen Bereichen zum
Tragen, überall wo szenische Momente aufkommen und wo ich–in-Welt bin, und über
meine elementaren Lebensfelder hinaus explizit eben in der Kunst, beim Spiel,
im Sport usw. Das bedeutet, trocken und grob identitätstechnisch formuliert, es
bieten sich mir gelingende Positionen innerhalb der entscheidungstechnischen
Polarität an, etwa repräsentiert durch eine Schlagtechnik beim Baseball mit
bestimmten Grundgedanken worauf es ankommt, und ich finde mich darin selber
wieder – also in einer Verhältnishaftigkeit der Komponenten jener Technik, die
irgendwie meiner (so und so weit unbewusst) angestrebten Schaffung eines
Identitätsnaturells entspricht – und
ich greife das dann nicht nur wie angesammelte Regeln auf, sondern ergreife und
lass mich ergreifen, im Akt der Bejahung > Identifikation, von einer Art
höherem Ergebnis, das mir wie ein Pedant meines eigenen (ersehnten) Wesens
erscheint. So handelt es sich bei dieser Aktivität im tieferen um eine Übung der
Ichwerdung.
Wie trockene
Theorie und füllige Lust an der Sache ineinander gehen müssen, um eine höhere
Meisterschaft möglich zu machen – unerfasslich und nicht intellektuell
kontrollierbar! ‑, so müssen, damit verwandt, unsere lebensgestaltenden
Vollzüge in wesensechter Abstimmung und Konsequenz stattfinden. Letztlich sind
wir gefordert, die Komponenten unseres
Lebens, bei allen möglichen Entscheidungsfindungen, nicht nur zu ordnen,
sondern schließlich wesenhaftzu realisieren. Darin erproben wir uns spielerisch
bei verschiedensten Gelegenheiten.
Gerade in der Kunst will das Publikum vor allem
den Akt des Wesensvollzugs erleben, also die (immer neue) Identifikation des
Künstlers. Im Idealfall identifiziert dieser sich mit einer anspruchsvollen Identitätsvorgabe,
also einer, die nicht durchsichtig konstruiert, sondern aus ernsthafter
Auseinandersetzung mit dem Dasein erwachsen ist. Je nach Publikum kann freilich
auch eine defizitäre Identität gefragt sein, von elitär kritisch bis verlogen
naiv, von schlicht brutal bis diffus weichgespült.
In allen Fällen geht es aber um die Hingabe des
Künstlers, um die Einladung zu eigener Identifikation. Und ich werde dabei
immer wieder kapieren müssen, dass echte Identifikation etwas anderes ist als Wunschdenken
oder Lebensunterwerfung. Ich werde in Übung und Auseinandersetzung – zwar
durchaus wunschdenkend und (ansatzweise) Situationen unterwerfend – auf
Sensibilität getrimmt, auf die Unbestechlichkeit meiner Wesensprüfung.
Unbestechlichkeit? Aber das Wesen lässt sich
doch in alle Richtungen verändern. - Das Wesen als Ergebnis meiner Entscheidungsvollzüge
ja, aber nicht meine (aller Identifikation konstitutiv vorausliegende)
Wesensspannung, eine nicht objektivierbare Maßhaftigkeit, wann etwas Wesen ergeben kann. Das ist nicht objektivierend fassbar, auch
nicht überführbar in eine Programmatik, wie ich es zu halten beliebe mit dem
Dasein – ich bin ganzheitlich, also unhintergehbar gefordert in meiner Fähigkeit
zu echter Wesenserlangung.
Man stelle sich ein
Gemälde vor, das von mir fertigzustellen sei. Da werde ich nicht sagen, der
Anteil von Blau als einer Hauptfarbe ist noch unter 25 Prozent, entsprechend
muss ergänzt werden. Nein, ich werde gefühlsmäßig dem Charakter des Bildes
nachgehen. Eher im korrektiven Sinn wird das auch mal konzeptionell ausfallen.
‚Da ist mir zuviel Blau drin. Da fehlt Kontur, usw.‘ Wir sind hier aber nicht
eigentlich auf der Ebene absichtsvoll rationaler Verfügungen.
Z a n z i b a r
J o s 3
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Hier etwas programmatisch fasslich zu machen ist per se unmöglich. Näher
bringt uns dieser Wirklichkeit tatsächlich die Kunst. Komponenten der
Wesensbestimmbarkeit: Einheitenbildung, Auslotung variabler aber einander verwandter
Elemente, Freigabe von multiplikativen Effekten etc. – was in seinen
Wirkgesetzlichkeiten und Bezugshaftigkeiten eine Analogie zu unserem
lebensrealen Komponentengefüge aufweist, inspiriert uns zu einer ‚Wesensverleihung
als solcher’. Wir erleben diese Inspiration in vielfältigen Weisen, beim
Kartenspiel anders als bei der Malerei, bei der euphorischen Koordination
turnerischer Bewegungen einfacher als beim tiefenscharfen Geistesblitz während
einer Schachpartie, und dann – Spiel und Lebensernst sind oft kaum zu trennen -
beim Lernen auf die Matheprüfung vielleicht als Groschen, der fällt, bei der
Einschätzung eines Mitmenschen als Charakterprofil, beim Erleben einer
Situation als Stimmungsgehalt usw. Wir erleben/vollziehen sie laufend und in
verschiedensten Abstufungen. Identifikation geschieht ja nicht erst, wenn sich
wieder mal eine ‚fertige Persönlichkeit‘ anbietet, also in zielhaft
präzisierter Identifikation mit mir selbst, sondern schon, wenn ich irgendwelche
Dinge und Bezüge in eine wesensfähige Stimmigkeit gebracht habe und sie dabei,
unter mehr oder weniger präzisierter Selbstbezüglichkeit, identifiziere.
Ein geheimnisvolles
Maß, wir sprechen hierbei vom Wesensmaß, lässt etwas als wesenhafte Entität
identifizierbar werden. Es reicht in die feinsten Balancierungen des Entscheidens,
die mir als solche kaum mehr bewusst werden. Absichtsvoll kann ich mir
vielleicht den Gefühlsausbruch von gestern bewusst machen, und das beeindruckt
mich irgendwie und wirkt so auch wieder weiter, aber das ist sozusagen nur die
Spitze des Eisbergs. Auf der wesenheitlichen Ebene summiert sich jede Entscheidungsvorgängigkeit, samt
Charakteristika, die ins Ausdrückliche streben. Das Wesensmaß, also jene Größe,
ob und wann etwas als Wesen identifizierbar ist, bedingt dabei unsere
Entscheidungsmedialität.
Dieser Zusammenhang lässt sich nicht verändern,
sondern nur ausblenden oder verdecken. Er wird
ausgeblendet mit selbstlaufenden Unter- und Übertreibungen als Ichvorgaben, mit
behaglichem Sich-Wegdrücken, aber auch wenn sich jemand darauf versteift mit
den falschen Mitteln das Richtige anzustreben. Wenn die ureigentliche Wesensprüfung,
als Anteil der Enscheidung > Identifikation, blockiert wird – indem z. B.
jemand in einem für ihn unpassenden Milieu bestehen will und sich die entsprechende
Ichvorgabe auferlegt ‑, verschiebt sich alles auf Konvention hin. Er wird
schließlich seine Absichten, Wünsche, Sehnsüchte in Konventionalität verpackt
vorfinden, die er nicht vom Herzen her durchdringt.
Das ist auch dann problematisch, wenn die
Konvention meinen als natürlich und naheliegend erfahrenen Impulsen durchaus entspricht.
Weil ich entweder schon völlig in jener Konvention aufgegangen bin oder weil es
bei mir kaum eine Selbstposition zu identifizieren gibt. Im ersteren Fall, dem
gediegenen Aufgehen in einer lebensfrischen Konvention, also einer fraglosen
Natürlichkeit, ist die Identifikation schnell zu sehr nach außen verlagert -
auch das Innen ist ja sofort ein Außen, wenn es anvisiert wird ‑, und alle
Ansätze einer Selbstwahrnehmung als „natürlich“ oder „vital“ o. ä. bergen mich
in Ichbetreibung ein. Zweiteres betrifft viele Kunstschaffende. Sie lassen ihr
Schaffen und Entscheiden sozusagen autorisieren von einer (erlebten und
vielleicht theoretisch unterfangenen) naturhaften Stimmigkeit, geben den
Eigenanteil eines motivierten Identifizierens auf und erleben sich bald tatsächlich
als überantwortet: jener vorausliegend gegebenen Phänomenalität der Stimmigkeit
(basierend u. a. auf der angesprochenen Wesensspannung.)
Es geht nicht um eine Zauberformel der Totalen
Sensibilität oder ein Prinzip der Selbstzurücknahme auf authentische Daseinserfahrung
hin. Auch dies schottet uns von dem originär menschlichen – immer neu in
Identifikation zu erschließenden - Daseinsanspruch ab. Wir sollten nicht wie
der ‚Fänger im Roggen‘ die Identitätsgestaltung als solche verdächtigen, auf
eine vorausliegende Wahrhaftigkeit hin, in rigoros authentischem Weltschmerz,
der eigentlich Weltbetreibung ist, dort nämlich eine dynamisierende Schräglage
der Selbstüberlassung an Relikte kindhafter Identität.
Schon oft wurde
die Konditionierung unseres Stimmigkeitserlebens über die Kunst zu ergründen
gesucht. Hierzu gibt es eine Reihe berühmter Namen, Pioniere in dieser Stoßrichtung
waren z. B. Kandinsky und Schönberg. Da war eine Kunst angetreten, ihre
tieferen Maßgaben ans Licht zu holen. Die Loslösung aus überkommenen Formen und
verselbständigten Aussageweisen des Kunstbetriebs führte dabei aber zu einem
konzeptionellen Bruch mit Konventionalität als solcher und zum Versuch einer
theoretischen Neubegründung dessen, was man etwa als ‚Innere Notwendigkeit’
bezeichnete. Dass dem eine reale seelische Größe oder Maßgabe entspricht,
erfahren ja alle Künstler täglich, mehr oder weniger explizit, und jeder Mensch
wird in seinem Selbsterleben entscheidend davon bedingt. Aber dies fassbar
machen zu wollen, gültige Abstraktionen davon anzupeilen, führte im Ergebnis zu
einer verfälschenden Positivierung seelischen Erlebens. Den Tiefen der
Gegenstandslosigkeit oder der Atonalität entspricht eine ekstatische Illusion.
Es geht eine tückische Faszination davon aus, höhere Gesetzlichkeiten oder jene
Innere Notwendigkeit von sich her aufweisen
zu können, unserem identitätsbildungshaft jeweiligen Realisieren-Müssen
objektivierend habhaft zu werden. Zwar wurde genau das Gegenteil angestrebt,
nämlich die authentisch ausgelieferte Existenzialität des Menschen freizulegen
– nach Paul Klee: eine Linienführung als freier Ausdrucksträger des
Psychischen, losgelöst vom Dienst der Beschreibung ‑, doch im Effekt
verwandelte und entfremdete sich die solchermaßen explizit anvisierte
Innerlichkeit; sie reagierte sofort darauf, eine anvisierte zu sein, genauer:
die Aussicht, nun ‚mit der Psyche’ agieren zu können, führte zu einer
vertrackten Euphorisierung, und mit diesem katalytischen Effekt kommt die Kunst
bis heute kaum zurecht.
Die konzeptionelle
Verselbständigung der Wesensgewahrung, also ihre Ablösung von lebensweltlichen
Konkretheiten, mit der Ermöglichung von auf sie – isoliert – abhebender
Wesensbildung, wurde von der Moderne im großen Stil auf den Weg gebracht.
Vielleicht ist das sogar deren bestimmender Grundzug: Es wird von dieser
Erlebbarkeit aus in allem bei einer Selbstkonzeptionalität des Menschen
angesetzt: ich erfinde nicht nur meine Identität, sondern auch den Prozess
dorthin. Wie problematisch das dann ist – gerade die notwendige
Wiedereingliederung abstrakter, von lebensdramaturgischer Konkretheit
isolierter Erlebnisweisen ‑, wird heute vielfach und äußerst schmerzlich
erfahren.